22
Nov
2006

Auf dem Schiessstand

[Ein junger Garou erzählt aus "Eingewachsene Klauen"]

Den ganzen Tag Vormittag waren wir auf dem Schießstand. Sarah übte mit uns so genannte "Kugelmeditationen" wobei sie Projektile meint. Sie hat behauptet, wenn wir lange genug üben, werden wir irgendwann Kugeln ausweichen können. So wie in diesen Filmen. Nachdem wir alle zum Ausdruck gebracht hatten, das wir das nicht so recht glauben können und ob sie das nicht mal vormachen würde, meinte sie, dass gegen Mittag Corinna zu uns stoßen würde, und sie es gemeinsam vormachen würden.

Corinna war auch eine kleine, junge Frau; höchstens zwanzig. Sie hatte blasse Haut und schwarze Haare. Sarah und Corinna könnten Schwestern sein. Vielleicht waren sie Schwestern?

Und sie machten es vor. Erst stellte sich Sarah vor eine der Zielscheiben, und Corinna schoss auf sie. Wir hatten erst Zweifel. Es ist ja auch schwer, jemanden dabei zu beobachten, wie er einer Kugel ausweicht, es ist schon eine sehr schnelle Bewegung. Aber dann stellten wir uns neben sie und konnten die Einschläge genau hinter ihr in der Zielscheibe sehen.

Sie tauschten. Sarah schoss auf Corinna. Die machte sich nicht mal die Mühe, auszuweichen, stand einfach nur da. Sah nicht einmal hin. Und wurde nicht getroffen. Schließlich meinte Sarah: "Du musst schon Ausweichen. Wir machen hier Ausweichen vor, nicht irgendwelche anderen Zaubertricks."

"Na gut. Dann aber nicht mit der Pistole. Das ist zu Langweilig. Nimm was größeres." Woraufhin Sarah ein Sturmgewehr nahm.

Die beiden haben uns kurz danach raus geworfen; sie meinten, sie würden noch etwas zu zweit üben.

Am Abend ging ich zu Corinnas Appartement. Noch eben die Pläne für morgen abholen. Klopfte. Keine Reaktion. Auch nicht beim zweiten Mal. Nach dem dritten Mal hörte ich drinnen: "Mmmm Mm Mmmm-Mmm Mmmm".

Ich ging rein. Ich fand sie im Schlafzimmer. Sie hatte die Rollläden herunter gelassen; ich machte Licht. Sie hatte die Decke ganz über den Kopf gezogen, so dass sie fast ganz darunter verschwunden war. Nur die Beine schauten bis zu den Knien hervor. "Lass mich in Ruhe!" Ihre Stimme war leise und von der Daunendecke gedämpft - ich verstand sie kaum.

"Corinna?"

"Geh weg!"

Ich rollte die Decke halb zur Seite und erschrak. Das Kopfkissen war voller Blut und auch an ihrem Kopf war blutig verklebt. Ihr Gesicht war ins Kissen vergraben und auf ihrem Hinterkopf lag ein Eisbeutel. Sie nahm das Eis vom Kopf und drehte sich widerwillig halb um. Ich konnte es durch das viele Blut kaum erkennen, aber sie schien eine große Wunde im Hinterkopf zu haben. "Mann, dimm das Licht runter! Ich hab' so schon genug Kopfschmerzen, ja?" forderte sie. Ich tat wie geheißen.

"Was ist...," begann ich.

"Du kannst hier doch nicht einfach so reinkommen." Jetzt, wo ich das Licht heruntergedimmt hatte, drehte sich sich weiter um. Sie hatte ein verschorftes Einschussloch in der Stirn. "Geh mal 'rüber in die Küche. In dem Eisschrank findest du Tupperdosen. Die sind beschriftet. Eine mit neun oder mehr, ja?"

Ich kam mit einer Tupperdose zurück, in der eine rote Flüssigkeit eingefroren war. Etwa zwei Liter, schätzte ich. "Wärm' es auf," verlangte eine Stimme unter der wieder zurück gerollten Bettdecke. "Im Wasserbad. Nicht über vierzig Grad. In der Küche ist ein Thermometer."

Ich kam zurück ins Schlafzimmer, als ich fertig war. Die Flüssigkeit in der Tupperdose hatte sich als Blut herausgestellt. Sie nahm das Gefäß und begann zu trinken.

"Die Pläne liegen hier." meinte sie schließlich und deutete auf einen kleinen Tisch. "Schau schon einmal. Ich geh' erstmal duschen."

Als sie wiederkam, waren beide Wunden an ihrem Kopf verschwunden. Nur das viele Blut im Bett zeugte noch davon.

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